E2: Simultaner und sukzessiver Erwerb von Mehrsprachigkeit
Wissenschaftliche Fragestellung:
Diese Untersuchung ist der Frage gewidmet, ob der Erwerb von zwei oder mehr Sprachen anders verläuft und zu qualitativ anderen sprachlichen Fähigkeiten führt als der monolinguale Spracherwerb. Dabei gehen wir von der Annahme aus, dass durch die menschliche Sprachfähigkeit eine Disposition zur Mehrsprachigkeit gegeben ist, deren Aktivierbarkeit aber im Verlauf des späteren Kindesalters abnimmt. Das führt zu der Hypothese, dass der simultane Erwerb von Sprachen die Entwicklung von grammatischen Kompetenzen ermöglicht, die qualitativ denen von entsprechenden Monolingualen gleichen, während das grammatische Wissen von Lernern, die mehrere Sprachen sukzessiv erworben haben, qualitative Unterschiede zu dem der jeweiligen Muttersprachler aufweist. Um dies zu überprüfen, wird der bilinguale Erstspracherwerb (2L1) mit dem monolingualen Erstspracherwerb (L1) und mit dem Zweitspracherwerb (L2), also dem sukzessiven Erwerb von Zweisprachigkeit verglichen.
Bereits in der ersten Projektphase (1.7.1999-30.6.2002) wurden zwei Hypothesen formuliert, die Autonomiehypothese und die Reifungshypothese, die seitdem untersucht werden. Schwerpunkt der ersten Projektphase war die Überprüfung der Autonomiehypothese. In der zweiten Projektphase (1.7.2002-30.2005) rückte die Reifungshypothese zunehmend in den Mittelpunkt der Arbeit; in der laufenden dritten Phase (1.7. 2005-30.6.2008) liegt der Schwerpunkt weitestgehend auf dieser Problematik.
Die Hypothese der Autonomie grammatischer Entwicklung folgt aus der Annahme einer menschlichen Sprachfähigkeit als Anlage zur Mehrsprachigkeit, die in einer sensiblen Altersphase aktiviert werden muss. Aus der Perspektive der hier zugrunde gelegten Grammatiktheorie bedeutet dies, dass die Universalgrammatik (UG) zugänglich wird, deren Prinzipien zu jedem Zeitpunkt des Erwerbsverlaufs die sich entwickelnden grammatischen Systeme bestimmen. Ein wichtiges Ergebnis der ersten beiden Phasen des Projekts ist, dass keine qualitativen Unterschiede zwischen monolingualer und bilingualer Grammatikentwicklung gefunden werden konnten. Mehrsprachige Kinder differenzieren von Beginn an die grammatischen Systeme und durchlaufen die gleichen Entwicklungsphasen wie entsprechende monolinguale. Interdependenz (Transfer, Verzögerung, Beschleunigung), soweit sie überhaupt nachweisbar ist, lässt sich eindeutig als Performanzphänomen interpretieren.
In der zweiten Phase wurden verstärkt unausgeglichene Entwicklungsverläufe untersucht, bei denen gegenseitige Beeinflussungen der Sprachen eher zu erwarten sind als bei ausgeglichenen. Auch hier konnte aber bislang kein Nachweis dafür erbracht werden, dass in der ”schwachen” Sprache eine qualitativ andere Kompetenz als in der stärkeren erworben wird. Die „schwache“ Sprache wird jedoch in der laufenden Phase weiter untersucht.
Da die bisherigen Forschungsergebnisse die Autonomiehypothese sehr nachdrücklich bestätigen, beschränkt sich der Vergleich zwischen 2L1 und L1 in der laufenden Phase auf die Analyse von baskisch–spanischen Daten. Der Kontrast von typologisch unterschiedlichen Sprachen, wie Spanisch und Baskisch, ist besonders vielversprechend und wurde in der Forschung bisher vernachlässigt.
Die Reifungshypothese ergibt sich aus der Annahme, dass die menschliche Sprach(erwerbs)fähigkeit nicht unbegrenzt zugänglich bleibt und somit beim L2 Erwerb nicht mehr direkt auf sie zugegriffen werden kann. Unsere bisherigen Ergebnisse zum Vergleich des simultanen mit dem sukzessiven Erwerb von Zweisprachigkeit lassen in der Tat bedeutende Unterschiede erkennen, welche die Reifungshypothese bestätigen, d.h. die Erwerbsfähigkeit ermöglicht den mono- oder multilingualen Erstspracherwerb innerhalb eines begrenzten Alterszeitraums (sensible Periode). Ein späterer Erwerb von Sprachen ist demnach auf andere kognitive Fähigkeiten angewiesen, wodurch sich im Vergleich zur L1 qualitative Unterschiede im Erwerbsverlauf und in der Art des erworbenen grammatischen Wissens ergeben. Unter der Annahme, dass das optimale Erwerbsalter im Alterszeitraum zwischen 3 und 5 Jahren auszuklingen beginnt und die kritische Phase etwa mit 8 bis 10 Jahren endet, ist zwischen (2)L1 einerseits, kindlichem (etwa von 5 bis 10) und erwachsenem L2 Erwerb andererseits zu unterscheiden.
Ziel der Arbeit in der laufenden Phase ist es unter anderem herauszufinden, ob es auch beim sukzessiven Erwerb innerhalb der optimalen Phase (3 bis 5) möglich ist, eine der L1 entsprechende Kompetenz zu erlangen. Man kann vermuten, dass tatsächlich bereits der verzögerte Erwerb im frühen Kindesalter auf Grund der neuronalen Reifung zu qualitativen Differenzen führt, die durch linguistische und neuropsychologische Analysen ermittelt werden müssen. Die Altersfrage steht somit ganz im Mittelpunkt der Arbeit der laufenden Phase III.
Schon in Phase II wurde die Reifungshypothese außer durch Analysen der Sprachproduktion auch durch neuropsychologische Tests überprüft. Dabei wurden fortgeschrittene und geübte L2 Lerner (Deutsch und Französisch) mit Personen verglichen, die beide Sprachen von Geburt an erworben haben. Die vorläufigen Ergebnisse dieser Kernspin-Untersuchungen (fMRI) deuten auf Unterschiede zwischen den beiden Lernertypen bei der Sprachverarbeitung in der funktionalen Organisation des Gehirns hin. In der Phase III sollen diese Studien fortgesetzt und durch Untersuchungen der Gehirnstromaktivitäten (Event-related brain potentials, ERP) ergänzt werden. Außerdem werden in die neuropsychologischen Tests Bilinguale einbezogen, die ihre Sprachen sukzessiv, aber schon im frühen Kindesalter erworben haben.
Methodischer Ansatz:
Untersucht werden die bereits vorliegenden Korpora zum 2L1 Erwerb Deutsch - Französisch, Deutsch - Portugiesisch und Baskisch - Spanisch. Für die Studie des erwachsenen L2-Erwerbs stehen Daten für die Zielsprachen Deutsch und Französisch zur Verfügung. In der laufenden Phase werden zudem Daten zum frühkindlichen L2-Erwerb des Französischen, Deutschen und Portugiesischen erhoben.
Unsere Datenauswertung konzentriert sich in erster Linie auf die Stellung des Verbs, die linke Satzperipherie, Finitheit sowie Tempus-Aspekt und klitische Pronomina.
Die neurolinguistischen Untersuchungen werden mittels Elektroenzephalogramm (EEG) und Kernspinresonanztomographie (fMRI) von der "Cognitive Neuroscience Laboratory" Forschergruppe der Neurologischen Universitätsklinik in Kooperation mit unserem Teilprojekt durchgeführt.