E11: Linguistische Aspekte der Spracherosion und des Zweitspracherwerbs bei erwachsenen bilingualen (Deutsch-Französisch und Deutsch-Italienisch)
Projektleitung: Tanja Kupisch
Mitarbeiterinnen: Giulia Bianchi, Dagmar Barton
Unter Spracherosion (language attrition) versteht man Sprachverlust bei individuellen Sprechern, der nicht durch physische Defekte bedingt ist (Polinsky 1997). Solche nicht-pathologischen Fälle von Sprachverlust werden vor allem im Kontext des bilingualen Spracherwerbs diskutiert. Sie fallen einem vergleichsweise unerforschten Bereich zu, welchem erst in den letzten Jahren zunehmendes Interesse gewidmet wurde (z.B. Köpke & Schmid 2004; Schmid, Köpke, Keijzer & Weilemar 2004; Köpke 2004; Köpke, Schmid, Keijzer & Dostert 2007; Montrul 2002, 2005, 2008; Polinsky 1997; Seliger & Vago 1991; Silva-Corvalán 1994, 2003; Sorace 2000; Tsimpli, Sorace, Heycock & Filaci 2004; Tsimpli 2007; Valdéz 1995).
Die Zielgruppe des Projektes sind Sprecher, die zwei Sprachen (hier: Deutsch/Französisch bzw. Deutsch/Italienisch) von Geburt an im natürlichen, ungesteuerten Spracherwerb im Familienkontext erworben haben, s.g. Heritage Learner. Im Einklang mit den meisten Arbeiten zum Thema nehmen wir an, dass eine ihrer beiden Sprachen, die Umgebungssprache, stärker/dominant ist. Die schwächere Sprache hingegen repräsentiert eine Minderheitensprache.
Mit Hinblick auf die schwächere Sprache wurde argumentiert, dass sich neben Auffälligkeiten in Aussprache und Wortschatz (im Vergleich zu monolingualen Sprechern) sichtbare Defizite im morphosyntaktischen Bereich zeigen, die sowohl Performanz als auch Kompetenz betreffen. Eine Vielzahl von Studien berichtet sogar Ähnlichkeiten zwischen Heritage-Sprechern und Zweitspracherwerbern (L2-Lerner) (z.B. Au, Knightly, Jun & Oh 2002; Bruhn de Garavito 2002; Montrul 2004, 2006, 2008; O’Grady, Llee & Choo 2001; Schlyter 1993; Schlyter & Håkansson 1994). Dieses Projekt wird ein Korpus deutsch/französisch und deutsch/italienischer Sprecher erstellen, um zu untersuchen, ob bisherige Ergebnisse durch neue Sprachdaten gestützt werden können. Auf der Basis bestimmter morphologischer und syntaktischer Phänomene ermitteln wir Kon- und Divergenzen (ggf. deren Abwesenheit) zwischen starker und schwacher Sprache sowie zwischen einer schwachen Sprache und einer Zweitsprache (L2).
Unser Projekt soll zur Beantwortung folgender Fragen von genereller theoretischer Relevanz beitragen:
- Modularität: Sollte Spracherosion nur bei bestimmten Phänomenen auftreten, kann dies als Hinweis darauf gedeutet werden, dass menschliche Sprachfähigkeiten modular organisiert sind.
- Alter beim ersten Kontakt mit der zweiten Sprache: Wenn sich starke Ähnlichkeiten zwischen 2L1 und L2 nachweisen ließen, erschiene es unplausibel anzunehmen, dass der Kontakt mit zwei Sprachen von Geburt an das Erlangen muttersprachlicher Kompetenz im Erwachsenenalter garantiert.
- Kompetenz oder Performanz: Machte sich Spracherosion vor allem in den naturalistischen Daten deutlich bemerkbar, wäre jedoch nicht durch entsprechende Grammatikalitätsurteile dieser Sprecher gedeckt, so kann vermutet werden, dass das Sprachwissen nicht verloren ist, sondern lediglich der Zugriff darauf erschwert/ blockiert.
- Spracheneinfluss: Durch den Vergleich von Daten im In- und Ausland (d.h. unterschiedliche Dominanzkonstellationen), lässt sich testen, ob Erosion ausschließlich durch den simultanen bzw. dominanten Input in der jeweiligen anderen Sprache ausgelöst werden kann.
Die Ergebnisse dieses Projektes sollen ferner einen Beitrag zur Bewertung der empirischen Adäquatheit aktueller theoretischer Modelle der Spracherosion leisten.