E4: Spezifische Sprachentwicklungsstörung und früher L2-Erwerb: Zur Differenzierung von Abweichungen im Grammatikerwerb
Projektleitung: Prof. Dr. Monika Rothweiler, FB 12, Universität Bremen (www.monika-rothweiler.de)
Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen: Dr. Manuela Schönenberger, Franziska Sterner
Das Projekt untersucht die grammatische Entwicklung bei Kindern mit Türkisch als Erstsprache (L1) und Deutsch als früher zweiter Sprache (L2), sowohl bei sprachunauffälligen Kindern als auch bei Kindern mit einer Spezifischen Sprachentwicklungsstörung (SSES).
Das Projekt bearbeitet drei Fragestellungen:
- Wie gestaltet sich der Erwerb, insbesondere der Grammatikerwerb, der zweiten Sprache Deutsch, wenn der Erwerbsbeginn bei ca. 3 Jahren liegt?
- Wie prägt sich eine Spezifische Sprachentwicklungsstörung in der zweiten Sprache Deutsch bei Kindern aus, die Deutsch ab dem Alter von ca. 3 Jahren erwerben?
- Welche grammatischen Phänomene können in der Erstsprache Türkisch als klinische Marker für eine Spezifische Sprachentwicklungsstörung identifiziert werden?
Zur Klärung dieser Fragen wird bei türkisch-deutschen Kindern, die in den ersten Jahren ausschließlich Türkisch gelernt haben, der Erwerb des Deutschen ab dem Alter von 3 Jahren longitudinal über eine Periode von ca. 24-30 Monaten erfasst, sowohl bei sprachunauffälligen Kindern als auch bei einer kleinen Gruppe von Kindern, bei denen ein Verdacht auf Vorliegen einer SSES besteht. Zudem werden über eine Periode von einem Jahr Daten von älteren, d.h. 6-8-jährigen, türkisch-deutschen Kindern mit SSES erhoben, die ebenfalls seit dem Alter von ca. 3 Jahren Deutsch erwerben. Da sich eine genuine Sprachentwicklungsstörung in allen Sprachen eines Sprechers niederschlagen muss, werden auch punktuell Daten zur Ermittlung des Sprachentwicklungsstands im Türkischen erhoben. Die gewählte Konstellation von Sprachen (Türkisch/Deutsch) und Erwerbstyp (L1/frühe L2) bzw. Erwerbsbedingung (ungestört vs. gestört) ermöglicht die Untersuchung der drei genannten Fragestellungen.
Die erste Fragestellung betrifft den frühen ungestörten sukzessiven Erwerb und damit die 'kritische Phase' im Spracherwerb. Die bisher vorliegenden Ergebnisse stützen die Annahme, dass Kinder, die spätestens im 4. Lebensjahr mit dem Erwerb einer zweiten Sprache beginnen, dies parallel zum Erstspracherwerb tun. Für zentrale grammatische Strukturen (Satzstruktur, funktionale Kategorien) beobachten wir Erwerbsverläufe, die dem L1-Erwerb gleichen (Rothweiler 2006). Transfer aus der Erstsprache spielt keine Rolle. Die L1-Äquivalenz zeigt sich insbesondere im Kontrast zu Daten aus dem Wegener-Korpus (Erstkontakt mit dem Deutschen dort 6 Jahre) (Chilla 2008, Kroffke & Rothweiler 2006). Andere grammatische Bereiche, in denen lexikalisches Lernen eine bedeutende Rolle spielt (z.B. Genus), sollen in der laufenden Phase untersucht werden. Sollten sich Abweichungen vom L1-Erwerb belegen lassen, so sind als mögliche auslösende Faktoren Lexikonumfang und Transfer aus der Erstsprache zu prüfen.
Die zweite Fragestellung bezieht sich auf den Grammatikerwerb in der Zweitsprache Deutsch bei Kindern mit einer Sprachentwicklungsstörung, d.h. bei Kindern, bei denen auch im Türkischen Abweichungen im Grammatikerwerb auftreten. Die nun vorliegenden Ergebnisse zum Erwerb der Satzstruktur (Chilla 2008) zeigen, dass die Abweichungen bei Kindern mit SSES denen monolingualer Kinder mit SSES gleichen. Dieses Ergebnis ist nicht überraschend, da auch der unauffällige Erwerb der Satzstruktur im frühen sukzessiven Erwerb weitgehend parallel zum Erstspracherwerb verläuft. Diese Befunde müssen weiter erhärtet werden und sind von besonderem Wert für die sprachdiagnostische Praxis.
Die dritte Fragestellung betrifft die Ausprägung einer SSES in der Erstsprache Türkisch. Da bisher zu SSES im Türkischen keine Studien vorliegen, bearbeitet das Projekt auch diesen Bereich. Für das Türkische konnten bereits abweichende Muster im Bereich der Kasus- und Verbmorphologie gezeigt werden (Babur, Rothweiler & Kroffke 2007; Chilla & Babur im Druck).