Schwerpunktbeschreibung
Wissenschaft und Technik sind wesentliche Triebfedern gesellschaftlicher Modernisierung und Innovation. Die moderne Medizin stand von Beginn ihrer Entwicklung an in enger Beziehung zu technologischen Neuerungen. Medizinischer Fortschritt ist ohne die fortlaufende Produktion wissenschaftlicher Erkenntnis und ohne die Entwicklung immer neuer technischer Verfahren kaum denkbar. Zugleich provozieren Wissenschaft und Technik – oftmals gerade auf Grund ihrer unbestreitbaren und unverzichtbaren Erfolge – immer wieder Fragen und Konflikte um mögliche Folgen.
Mit der Entwicklung medizinischer Biotechnologie vollzieht sich heute ein erneuter technologischer Innovationsschub in der medizinischen Forschung, aber auch in der klinischen Praxis. Neben Problemen ethischer Natur, die bereits an zahlreichen Stellen in Wissenschaft und Gesellschaft und in großen öffentlichen Debatten thematisiert wurden, ruft der genannte Technologieschub aber auch eher unbemerkt sich vollziehende Veränderungen in der medizinischen Alltagspraxis, im Verhältnis von Ärzten bzw. Ärztinnen und Patienten/Patientinnen und in den gesellschaftlichen Deutungsmustern von Gesundheit, Krankheit, Subjektivität und Körperlichkeit hervor. Umgekehrt entstehen neue Diskurse, die selbst solche Deutungsmuster erst schaffen. Man denke etwa an Interessenkoalitionen, die unter dem Motto öffentlicher und privater Gesundheitsvorsorge etwa auf dem Gebiet der Public-Health-Genetics oder der Forschung mit Biobanken aktiv sind. Hier werden, so kann man jedenfalls vermuten, die Legitimationsmuster und Leitbilder für Technologieschübe in der gesellschaftlichen Kommunikation erzeugt und erprobt.
Wir gehen also von einem komplexen Wechselspiel zwischen technologischer Innovation und gesellschaftlicher Legitimation aus, das durch Ursache-Wirkungs-Beziehungen in beiden Richtungen gekennzeichnet ist. Der Promotionsschwerpunkt nimmt beide Aspekte dieses Wechselwirkungsverhältnisses in den Blick. Soziale Deutungsmuster und Technologien, so die These, entstehen in enger sozialer Koproduktion und können daher nicht losgelöst von einander betrachtet werden.
Aus dieser Wechselwirkung zwischen Technikinnovation und sozialen Deutungsprozessen entstehen sowohl ethische Problemlagen, als auch Fragen der politischen und rechtlichen Regulierung im Kontext von Technikgenese und Technikfolgen. Diese weitreichenden und zukunftsrelevanten Fragen stehen vor dem Hintergrund einerseits einer elaborierten ethischen Debatte und andererseits einer etablierten interdisziplinären Wissenschafts- und Technikforschung. Der konzeptionelle Ausgangspunkt des Promotionsschwerpunkts knüpft an diese beiden etablierten Traditionen an und führt sie unter Berücksichtigung der neuen Problemlagen in der biomedizinischen Entwicklung weiter. Er basiert auf der Beobachtung, dass sich gegenwärtig eine Diffusion der Technik in den medizinischen Alltag vollzieht, und auf der darauf aufbauenden Hypothese, dass dadurch ganz neue Fragen jenseits der breit diskutierten ethischen Problemlagen aufgeworfen werden – Fragen, die mit zunächst vielleicht kleinformatig erscheinenden, möglicherweise aber sehr weit reichenden Veränderungen dieses Alltags zusammenhängen.
Fünf mögliche Themenfelder für Dissertationsprojekte ergeben sich aus diesem Zugang:
- Perfektionierung menschlicher Eigenschaften und Fähigkeiten
- Veränderungen im Verständnis von Krankheit/Gesundheit
- Öffentliche Legitimation und technologische Innovation
- Professionalität und Beruf
- Soziale Gerechtigkeit und politische Regulierung
Der Schwerpunkt bearbeitet diese Fragenkomplexe in eng vernetzter – tendenziell nach dem Modell eines Graduiertenkollegs organisierter – Kooperation zwischen den Promovenden unter kontinuierlicher Beteiligung der Betreuer. Im skizzierten Themenbereich sind viele Arbeitsfelder für Dissertationsvorhaben denkbar.
Die folgende Themenliste bietet nur einige Anhaltspunkte:
- Wissenssoziologische Rekonstruktion genetisch definierter Krankheitsbilder
- Genetisierung von Krankheiten und deren Deutungen in der Praxis
- Genetisierungsprozesse: Konvergenz elektronischer Datenverarbeitung und avancierter Genomanalyse (Gen-Chips und Biobanken)
- Genetischer Determinismus und moderne Biomedizin
- Entgrenzung von Gesundheit und Krankheit: Auswirkungen auf das Gesundheitswesen
- Biopolitik: Selbstdisziplinierung und Entstehung neuer Verantwortlichkeiten, Herausbildung neuer Körper- und Selbstkonzepte
- Folgen von Enhancement- und Lifestyle-Medizin
- Legitimation biomedizinischer Praxis in öffentlichen Diskursen
- Öffentliche Debatten und Regulierung der Biomedizin
- Gemeinwohl und Individualinteresse in öffentlichen Debatten über Biomedizin
- Vorsorge und Überwachung: Legitimationsmuster von public health genetics
- Biomedizin und „Technokratisierung“ ärztlichen Handelns
- Verwissenschaftlichung biomedizinischen Diagnose- und Therapieansätze und technokratisches Bild des Patienten
- Medizinische Professionalisierung in der universitären Ausbildung
- Professionalität und Institutionen des Gesundheitssystems
- Institutionelle Rahmenbedingungen medizinischen Handelns
- „Genetisierung“ der öffentlichen Gesundheitsvorsorge und Versorgung von Patienten
- Verfügbarkeit der Angebote, allgemeiner und gleicher Zugang zu ärztlichen Leistungen
- Medikalisierung, Individualisierung und ökonomisch bedingte Ungleichheiten
- Medizinische Angebote und globale Ungleichheit
- Privatisierung und Internationalisierung gendiagnostischer Leistungen
- Folgen der Biomedizin für staatliche Gesundheitspolitik und für die Sozialversicherungssysteme
- Fragen des Rechts auf (Nicht-) Wissen, der informierten Wahl der Behandlungsmethode, der Sicherstellung adäquater Formen der genetischen Beratung bzw. individuellen Risikokommunikation
- Rolle der sozialen Umgebung der Patienten (Familiensysteme als Entscheidungsträger) und deren rechtlich-normative Konsequenzen
- Qualitätssicherung von genetischen Interventionen durch Zertifizierungsmaßnahmen von Gentests und Gentestanbietern
- Instrumente und Formen der umfassenden öffentlichen und behandlungsbezogenen Aufklärung der Bevölkerung
- Veränderte Anspruchskonstellationen (Ansprüche auf einen „eigenen“ Klon z.B.)
- Ethische Pflicht zur Offenbarung genetischer Daten oder zur Teilnahme an Bevölkerungsstudien
- Populationsgenetische Forschung und freiwillige Teilnahme und informierte Zustimmung (informed consent)
- „Zwangs-Vorsorge“ und persönliche Autonomie
- Öffentliche Kommunikation (partizipative Formen der Technikbewertung)
Weitere Themenvorschläge sind willkommen. Ein ausführliches Programm (PDF) des Schwerpunkts kann heruntergeladen werden. Es sollte vor einer Antragstellung unbedingt zu Rate gezogen werden.